Sagen aus Balzers

Liechtenstein, aber auch Balzers selbst, ist reich an Sagen. Die Themen der Sagen gehören zur Tradition der Sagen des gesamten Alpenraums. Sie erzählen von wunderbaren, übernatürlichen und aussergewöhnlichen Ereignissen und erklären Deutungsbedürftiges aus der eigenen Lebenswelt, wie z.B. der Ursprung von Geländeformationen, Grenzverläufen, Gebäuden oder auch Namen.

Tauchen Sie in die Balzner Sagenwelt ein und lernen Sie die bekanntesten Sagen kennen:

Die Fee von Gutenberg

Vor langer Zeit war ein Bauernbub aus Balzers beim Beerenlesen bis zur Burg Gutenberg hinaufgekommen. Da sah er plötzlich dicht unter der Burgmauer etwas glänzen. Neugierig kletterte der Junge den Hang hinauf, und er täuschte sich nicht: da lagen unzählige Schneckenhäuschen – aber keine gewöhnlichen – sie waren aus purem Gold und strahlten in der Sonne so hell, dass man die Augen fast schliessen musste.

 

Der Junge hat den Schatz kaum wahrgenommen, da hörte er eine zart flehende Stimme, und als er aufschaute, stand vor ihm eine zauberhaft schöne Frau in weissen, weiten Kleidern und mit blonden, langen Zöpfen. Die schöne Frau sagte ihm, dass er sein Glück machen könne, wenn er den Mut zu einer tapferen Tat habe. Sie sei nämlich eine verzauberte Prinzessin, die schon seit vielen hundert Jahren auf ihre Erlösung warte. Immer nach hundert Jahren, an einem bestimmten Tag, erscheine sie mit ihrem Schatz, den sie hüten müsse. «Wenn du mich erlösen könntest, würde der ganze Goldschatz dir gehören». Da klopfte dem Jungen vor Aufregung das Herz. Er versicherte der Fee hoch und heilig, alles zu tun, was sie von ihm wolle.

 

Die Fee blickte ihn zärtlich an und seufzte dann: «Das Ganze ist nicht ungefährlich. Du musst mich nämlich dreimal an meinen Zöpfen im Kreis herumschwingen und darfst dabei kein Wort sagen, darfst nicht auf meine Zöpfe schauen und darfst mich auf keinen Fall loslassen. Ich wäre so glücklich, wenn es dir gelänge.»

 

Der Bub sah keine Schwierigkeit in dieser Aufgabe und rief voll Zuversicht: «Das wäre ja gelacht!». Er fasste die schöne Frau an den Zöpfen, schloss fest die Augen und presste die Lippen zusammen, damit ihm nicht aus Versehen ein Wort entschlüpfe. Dann holte er tief Luft und schwang die Fee kräftig herum. Da seufzte sie, denn einmal war es gelungen; auch zum zweiten Mal hatte er sie ohne Zögern herumgeschwungen. Nun nahm er alle Kraft und allen Mut zusammen – noch ein letzter Schwung, dann war das Glück in seinen Händen. Fast war er schon das dritte Mal herum, doch dann musste er – er konnte einfach nicht anders – einen ganz kurzen Blick auf die wunderschönen goldglänzenden Zöpfe werfen.

 

Aber Himmel was war das? In diesem Augenblick hatte er nur noch zwei Schlangen in den Händen und es schlüpften ihm die Worte heraus: «Jesses, wie kalt!»

 

Die arme Prinzessin stand daneben und weinte bitterlich: «Nun muss ich wieder hundert Jahre auf Gutenberg den Schatz hüten.» Dann verschwand sie, wie auch der Schatz; und nur noch einige ganz gewöhnliche Schneckenhäuschen lagen im Gras.

In diesem Augenblick hatte er nur noch zwei Schlangen in den Händen!

 

Zeichnung von Peter Haas

Der Drache am Ellberg

Vor langer Zeit hauste im Schatten des Ellbergs ein riesiger Drache. Mit seinen langen Zähnen und seinem unbändigen Hunger versetzte er die Bewohner von Mäls in Angst und Schrecken. Zu jener Zeit war das Gebiet, das heute «Oberfeld» heisst, ein sumpfiges Gelände; es gab damals noch keinen Rheindamm und der Rhein floss noch frei durchs Tal.

 

Damit der Drache nicht das Dorf überfällt, brachten ihm die Mälsner vorsorglicherweise Schafe, Ziegen und sogar kostbare Kälber hinaus an den Sumpf, damit der grausige Drache seinen ungeheuren Hunger dort stillen konnte. Aber die Gier des Drachen liess nicht nach und so brachten die Bewohner weiterhin ihre Tiere dem Drachen, bis sie fast völlig verarmten.

 

«Wenn wir uns das weiterhin gefallen lassen, frisst er uns zuletzt noch unsere Kinder!» Da kamen die Mälsner auf den Gedanken, das Untier einzufangen und zu töten. Sie flochten grosse Netze aus Hanfseilen. Diese Netze spannten sie zwischen mehrere dicke Eichenstämme – doch, auch nach mehreren Wochen ging ihnen der Drache nicht ins Netz und er wütete weiter – bis nur noch ganz wenige Tiere übrig geblieben waren.

 

Da es den Mälsnern nicht möglich war, den Drachen zu vertreiben oder zu töten, suchten sie schliesslich Hilfe bei der Mutter Gottes: Neun Tage lang beteten sie zur Mutter Gottes und versprachen ihr, eine Kapelle zu errichten, wenn sie sie von diesem Untier erlöse.

 

Die Gebete von den Mälsnern wurden erhört: Der böse Drache zeigte sich nicht mehr und war für immer verschwunden. Die Mälsner konnten aufatmen, weil sie ihre Ziegen und Kälber nun für sich behalten konnten. Das Gelübde aber hielten sich treulich: sie erbauten die kleine Wallfahrtskirche Mariahilf.

Sie flochten grosse Netze aus Hanfseilen, doch ging ihnen der Drache nicht ins Netz und er wütete weiter.

 

Zeichnung von Peter Haas

Diabalöcher

Eines Tages kam ein fremder Mann mit einer Angelrute nach Mäls. Bei einem Bauernhof blieb er vor einem Jaucheloch stehen, setzte umständlich einen Wurm an die Angel, warf ihn dann ins Jaucheloch und wartete gespannt darauf, dass ein Fisch anbeissen würde.

 

Es ging nicht lange, bis immer mehr Leute vom Dorf diesem seltsamen Fischer zuschauten. «Dem fehlt’s im Kopf», sagten sich die Leute mit Recht; doch es kamen immer mehr Leute hergelaufen, gross und klein, und einige glaubten am Ende auch, vielleicht habe es in der Jauche Fische. Der Fremde liess sich durch den Andrang der lachenden und geschwätzigen Leute nicht stören, tat sehr gespannt und lauerte wie ein richtiger Fischer auf den Zuck der Angelschnur. Die Leute warteten lange und geduldig, bis ein Bauer den seltsamen Fischer stupfte und grinsend sagte: «Sie, lieber Herr, hier kann man keine Fische fangen!».

Da gab der Fremde eine seltsame Antwort und lächelte dabei: «Kann sein, kann sein, was ich nicht fange, fängt bestimmt mein Bruder.» Der Fremde fischte noch eine Zeit lang weiter, zog dann die Angel wieder heraus, nahm sie untern Arm, ging seelenruhig zum Dorf hinaus und liess das Volk spotten.

 

Als der Bauer, der mit seiner ganzen Familie zugeschaut hatte, in sein Haus zurückkehrte, blieb er vor Entsetzen stehen: Da stand ein Fenster sperrangelweit offen, und aus dem Kamin war die ganze Sau gestohlen worden. Wie fluchte der Bauer! Nun wusste er genau, warum der Fremde in der Jauche gefischt hatte, und verstand auch, warum er von seinem Bruder gesprochen hatte.

 

Die Frau des Bauern konnte sich erinnern, dass vor einigen Tagen zwei Bettelweiber dagewesen waren und gierig nach der Sau geschaut hatten. Doch wo waren sie hingegangen, die Diebe? Alles Suchen half nichts, es war, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Dabei hörten die Diebereien in Mäls und Balzers nicht auf. Immer wieder verschwand auf unerklärliche Weise etwas aus Scheune oder Stall.

 

Einmal kam der gleiche Bauer zu Geschäften über den Rhein in das benachbarte Schweizer Dorf Vilters. Im Laufe des Gesprächs klagte er über die Diebstähle und darüber, dass es von den Dieben keine Spur gäbe. Da sagte der Schweizer nachdenklich und blickte dabei zum Stubenfenster hinaus: «Wenn es das sein könnte! Über eurem Dorf, hoch oben auf dem Ellberg, sehen wir von hier aus jede Nacht ein Feuer brennen und bei Windstille hört man von dort her Männer- und Frauenstimmen.»

 

Als der Bauer wieder zu Hause ankam, berichtete er sofort das Gehörte seinen Nachbarn. In einer der nächsten Nächte zogen sie bewaffnet auf den Ellberg hinauf, und was sie vermuteten, traf zu. Dort brannten vor zwei riesigen Höhlen mächtige Feuer, und die Diebe sassen in den Höhlen und liessen es sich gut gehen bei den gestohlenen Dingen.

 

Die wütenden Mälsner zögerten nicht lange, packten die Diebe und führten sie gefangen ins Dorf, wo bald das Gericht das verdiente Urteil sprach. Ein junges Paar jedoch habe sich der Verhaftung entzogen, indem es tanzend über den Felsen hinausgesprungen sei.

 

Von da an hatten die Bewohner von Mäls und Balzers wieder Ruhe. Das grössere der Diebslöcher besteht noch heute, doch es ist zerfallen.

Der Fremde liess sich durch den Andrang der lachenden und geschwätzigen Leute nicht stören, tat sehr gespannt und lauerte wie ein richtiger Fischer auf den Zuck der Angelschnur.

 

Zeichnung von Peter Haas

Die Grenze beim St. Katrinabrunna

Die Balzner und die Bewohner von Maienfeld in Graubünden waren sich schon immer uneinig, wo genau die Grenze zwischen den beiden Dörfern – und somit auch die Landesgrenze zwischen Liechtenstein und Graubünden – verlaufe.

 

Zur Zeit, als dieser Streit am heftigsten war, lebte in Balzers ein riesiger Mann, der «starke Jörg». Er war unheimlich stark, aber ein ruhiger und gutmütiger Mann und die Balzner schätzten ihn sehr.

 

Eines Tages schlugen die Bündner Folgendes vor: Sie werden einen Stein herrichten, den Jörg von Balzers aus gegen den Pass St. Luziensteig tragen soll. Dort, wo er ihn das erste Mal absetze, soll die Grenze sein. Die Balzner waren mit diesem Vorschlag einverstanden.

 

Die Bündner richteten einen so schweren Stein her, dass ihn zwei Bündner Männer nur mit Mühe auf einem Traggestell bis nach Balzers bringen konnten. Jörg aber lud ihn alleine auf seine Schultern und lief los. Alle Balzner begleiteten Jörg und viele Leute aus den anderen Gemeinden Liechtensteins waren gekommen, um diese einmalige Grenzziehung mitzuerleben. Sie feuerten Jörg auch immer wieder an: «Jörg, Jörg, jeder Schritt weiter, macht unser Land breiter!».

 

Ausserhalb von Balzers wurde Jörg jedoch schon langsamer und er musste keuchen, doch er lief immer weiter. Den Bündnern tat diese Wette jetzt schon leid. Soviel Kraft hatten sie Jörg nicht zugetraut. Als der brave Mann aber in die Nähe vom St. Katrinabrunna kam, brach er unter der Last des schweren Steins zusammen und blieb tot liegen.

 

Aufgrund dieses Opfers versöhnten sich die Bündner und Balzner und setzten den Grenzstein für ewig dort, wo er heute steht. Dies war im Jahr 1735.

«Jörg, Jörg, jeder Schritt weiter, macht unser Land breiter!»

 

Zeichnung von Peter Haas

Das Nachtvolk

In den alten Zeiten kam es vor, dass man in der Nacht Schritte von vielen Menschen hörte, die draussen wie in einer langen Prozession vorbeizogen. Ein dumpfes Gemurmel, als würden sie beten, drang durch die Fenster herein. Die alten Leute wussten, was das bedeutete. Sie beteten leise für ihr Seelenheil und hüteten sich, ans Fenster zu gehen – denn es war das Nachtvolk, das draussen vorbeizog, ein Zug von Abgeschiedenen, die keine Ruhe fanden.

 

Dennoch gab es immer wieder Neugierige, die ans Fenster gingen; denn man erzählte sich, dass in der letzten Reihe der murmelnden Gestalten jene Menschen zu sehen waren, die noch lebten, aber bald sterben mussten.

 

Einmal erwachte ein älteres Ehepaar, weil es draussen auf der Strasse die Schritte und das Murmeln des Nachtvolks hörte. Die neugierige Frau, die sich selber nicht getraute es zu tun, die aber gerne das Neueste im Dorfe wissen wollte, sagte aufgeregt zu ihrem Mann: «Du, das Nachtvolk geht vorbei. Schau doch schnell einmal hinaus, dann siehst du, wer bald sterben muss, und wir können für ihn ein Vaterunser beten.»

 

Der Mann kleidete sich im Dunkeln an, mit Mühe fand er seine Socken, dann öffnete er vorsichtig den Fensterladen und spähte hinaus. Er schaute den schemenhaften Gestalten nach, und als seine Frau aufgeregt flüsterte, wer zuhinterst in der Reihe gehe, schüttelte er nur den Kopf: «Ich kann es nicht genau sagen, es ist so dunkel, aber irgendwie kommt mir die Gestalt bekannt vor. Merkwürdig ist nur, dass sie zwei verschiedene Socken trägt, eine helle und eine schwarze.»

 

Dann schloss er den Fensterladen. Er machte nun Licht, um sich wieder auszuziehen, während die Frau daran herumrätselte, wer diese Gestalt sein könnte. Als der Mann seine Socken auszog, fuhr im der Schrecken in die Glieder. Denn er bemerkte, dass er in der Dunkelheit zwei verschiedene Socken, einen hellen und einen schwarzen, angezogen hatte. Die helle Socke gehörte seiner Frau, in der Finsternis hatte er sie verwechselt. Er brachte kein Wort heraus. Seine Frau wollte Näheres wissen, um es am Morgen den Nachbarsfrauen am Brunnen zu erzählen, er aber legte sich schweigend zu Bett.

 

Nach einer Woche geschah das Angekündigte: Der Mann stürzte vom Heuboden und war tot. Er hatte sich selber im Zug des Nachtvolks gesehen.

Der Mann kleidete sich im Dunkeln an, mit Mühe fand er seine Socken, dann öffnete er vorsichtig den Fensterladen und spähte hinaus.

 

Zeichnung von Peter Haas

Weitere Sagen aus Balzers können Sie auf dem Balzner Leseweg bei einem Spaziergang kennen lernen oder auch in folgenden Sagensammlungen nachlesen:

 

  • Hilbe, Herbert: Liechtensteiner Sagen neu erzählt. Triesen 2011.
  • Hilbe, Herbert: Sagenwelt Liechtenstein. Sagen aus den Alpen. Triesen 2017.
  • Liechtensteiner Sagen. Neu erzählt von Dino Larese mit einem Nachwort von Herbert Hilbe. 2. Aufl. Schaan 2004.
  • Seger, Otto: Sagen aus Liechtenstein. Schaan 1966.
  • Vogt, Sabrina: Hören Sagen. Unterwegs in Liechtensteins Sagenwelt. Hohenems, Wien, Vaduz 2014.